320 S., 12 €, EVT: 14.9.2023
Der Band bei Egmont*
LTB Disney 100, was ist das? Der hundertste Band einer Reihe namens “LTB Disney”?
Wie bereits geschrieben, feiert die Walt Disney Company gerade ihr hundertjähriges Bestehen. (Dass zugleich Micky Maus 95 wird, ist dabei leider ein wenig in Vergessenheit geraten, aber das nur nebenbei. Ein neues Micky Maus Sonderheft wäre doch was Schönes gewesen…) Zu den Feierlichkeiten gehört u.a. eine Comic-Reihe namens “Es war einmal … in der Zukunft” (Original: Once Upon a Mouse In The Future), welche klassische Disney-Cartoons neu interpretiert. In Italien ist der erste Teil hiervon bereits im Januar erschienen, bei uns gibt es die – wie bei Disney Publishing Worldwide längst üblich – acht Episoden auf einen Schlag.
Der Band macht schon mal was her. Das Cover ist zwar etwas kitschig und passt auch nicht richtig gut zum Inhalt, aber in puncto Papierqualität und Format braucht das LTB Disney 100 sich nicht vor dem LTB Premium zu verstecken. Alle Geschichten wurden von Francesco Artibani entworfen und teils in Zusammenarbeit mit anderen Autoren ausgearbeitet. Vor jedem Comic gibt es eine Seite, welche den jeweils Pate stehenden Trickfilm kurz vorstellt.
Ich oute mich gleich an dieser Stelle als ziemlicher Comic-Purist. Bewegte Bilder sind generell weniger mein Fall, und gerade bei Disney sind mir die animierten Versionen der Figuren oft auch zu schrill und aufgedreht. Davon abgesehen kam es bei mir auch einfach durch äußere Umstände nie dazu, dass ich die klassischen Trickfilme gesehen habe. Was nicht heißen soll, dass ich bezüglich deren Inhalt völlig ahnungslos wäre. Auch vor dem Lesen der einleitenden Artikel zu jedem Comic in diesem Band wusste ich grob, was es mit den Filmen auf sich hat. Am meisten vertraut bin ich wohl mit der Handlung von “Mickey’s Trailer”; die von Ferioli gezeichnete Comicversion (nicht die einzige) ist eines der ersten Donald-Micky-Crossover, das ich gelesen habe.
Etwas störend: Gleich zwei Filmtitel sind im Inhaltsverzeichnis falsch geschrieben (“Lonesome Ghost” und “Mickey Mouse Takes a Trip”), und Jack Hannah läuft unter Jack Hanna.
Gute Geister (Lonesome Ghosts)
Micky, Goofy und Donald sind Geisterjäger. Als solche sollen sie die Villa Rabenstein, eines der wenigen Anwesen von früher, von bösen Geistern befreien. Und das ist gar nicht so einfach…
“Gute Geister” ist eine kurzweilige Adaption mit viel Slapstick. Das klassische Cartoon-Trio Micky/Donald/Goofy hat hier seinen ersten, aber nicht letzten Auftritt im Band. Micky wirkt etwas draufgängerischer als man ihn aus den LTBs kennt, aber nicht infantil.
Giovanni Riganos Zeichnungen sind zwar nicht ganz mein Fall (zumindest was die Hauptfiguren angeht), aber die größeren Panels sind schon recht ansehnlich, was auch an der düster-stimmungsvollen Kolorierung (ebenfalls von Rigano) liegt. Die Bilder sind auch das Einzige, was diese Geschichte eindeutig in der Zukunft verortet, denn der Plot ist doch recht klassisch.
Außerirdischer Ausflug (Trailer Horn)
Gleich die erste Seite zeigt eine große Stärke des LTB Disney 100: Ivan Bigarellas Zeichnungen sind total anders als die von Rigano. In Italien bereits zum Star avanciert, ist es erst der dritte bei uns erschienene Comic dieses Zeichners. Mit den farbenfrohen, etwas an Illustrationen für Kinderbücher erinnerenden Bildern liefert er Schönes und Ungewöhnliches. Ein bisschen fühle ich mich an die Bonusgeschichten des neuen Phantomias erinnert, die hatten aber einen bewusst “unfertigen” Anstrich.
Dafür kann die Story diesmal nicht ganz so sehr überzeugen. Donald macht hier auf einem angeblich unbewohnten Planeten Urlaub, dort scheucht er allerdings zwei Backenhörnchen (die hier Y-Hörnchen und Z-Hörnchen heißen) auf, welche ihm daraufhin viel Ungemach bereiten. Wenn man es mag, Donald dabei zuzuschauen, wie er gepiesackt wird, dann ist diese Geschichte sicher gut.
Micky Maus macht einen Alltrip (Mr. Mouse Takes a Trip)
Auch hier geht es um einen interplanetaren Ausflug. Micky will diesen unternehmen, aber neben einem Mitreisenden, der ihm ein Ohr abkaut, gibt es da auch noch Kater Karlo, der ihm das Leben schwer macht…
Weitaus stärker uminterpretiert als Faccinis Adaption (zu finden in LTB Ostern 11), hat Artibani hier die Figuren etwas näher an ihren typischen Rollen angelegt. Micky ist nicht etwa ein Schwarzfahrer und Karlo findet sich nicht in der heutzutage eher unpassenden Rolle als Kontrolleur wieder. Aber ganz 08/15 ist die Figurenkonstellation dennoch nicht: Pluto als (sprechender!) Kontrolleur und damit gegenüber Micky in einer Autoritätsposition ist schon ungewöhnlich.
Auch die etwas skizzenhaften, aber immer klar lesbaren Zeichnungen von Zeichnerin Giada Perissinotto sind nicht Disney-Standard, erinnern allerdings wieder an PKNA-Kurzgeschichten. Die Kolorierung stammt von Gloria Marino.
Ärgerlich: Auf den Seiten 81 und 82 ist gleich zwei Mal “Sie” fälschlicherweise groß geschrieben.
Feuerkämpfer von morgen (Mickey’s Fire Brigade)
Spätestens hier wird klar, dass die Zukunftsszenarien im LTB Disney 100 nicht miteinander konsistent sind. In diesem Entenhausen der Zukunft bestehen die meisten Gebäude aus Holz, weshalb die Feuerwehr auch extrem wichtig ist (nicht dass sie ansonsten unwichtig wäre, aber ihr wisst, was ich meine…). Micky, Goofy und Donald sind Neulinge bei der Feuerwehr und bekommen daher auch einen alten Leiterwagen anstelle der modernen flugfähigen Vehikel zugeteilt.
Optisch sicher die ausgefallenste Geschichte im LTB Disney 100. Donald Soffritti hat hier seinen ohnehin etwas expressiven Zeichenstil noch mal deutlich abstrahiert, wodurch die Figuren teils ziemlich fremd eckig wirken. Man kann sich allerdings an diesen plakativen Stil gewöhnen. Die Farben lieferte Licinia Tozzi vom Arancia Studio.
Die Raumschiffbauer (Boat Builders)
Micky, Goofy und Donald sind auf einer Weltraumstation, welche evakuiert werden muss, da ein Asteroid auf besagte Station zufliegt. Weil alle drei Dinge mitnehmen wollen, für die kein Platz in den Rettungsshuttles ist, bleiben sie zurück – mit der Kommandantin Minnie, die den dreien helfen will, in Rekordzeit ein unfertiges Raumschiff fertigzustellen. Allerdings sind die drei dann doch eher Gärtner denn Handwerker…
Etwas arg chaotische Geschichte, die mich nicht vollumfänglich überzeugen kann, auch wenn die entscheidende Wendung recht unerwartet kommt.
Claudio Sciarrone, der auch selbst für die Farben verantwortlich ist, liefert qualitativ hochwertige, wenn auch etwas gewöhnungsbedürftige Bilder ab. Durch die weiße Umrandung wirken die Figuren sehr zweidimensional, was an Videospiele erinnert.
Artibani und Sciarrone sind ein etabliertes Team, aber von der Qualität eines “Gefahr von der Venus”, “Ducklair” oder “Calypso” sind wir doch ein Stück entfernt. Die Basketball+Serie “Slam Duck” ist übrigens eines der ersten Projekte von Disney Publishing Worldwide und wartet noch auf eine deutsche Veröffentlichung.
Mickys Mars-Mission (Mickey’s Trailer)
In dieser Zukunft wohnt man auf dem Mars. Dort gibt es eine Siedlung namens Entenhausen-2, sicher unter einer Glaskuppel geschützt. Was für ein Abenteuer es doch ist, diese Kuppel zu verlassen! Micky, Donald und Goofy machen sich mit ihrem Camper auf den Weg, den Roten Planeten zu erkunden. Dort wartet ein nerviger Roboter und ein gefährliches Missgeschick…
Das Duo Francesco Artibani+Lorenzo Pastrovicchio ist mittlerweile legendär. Die beiden hatten bereits zu Zeiten von Pk² kollaboriert, aber erst mit dem Beginn von PKNE 2014 begann eine wiederkehrende Zusammenarbeit, welche uns danach solche Meisterwerke wie u.a. die Geschichten rund um Kapitän Nemo sowie “Der siebte Rabe” bescherte. An dieses Niveau kann die Mars-Mission nicht ganz anschließen, aber ich finde sie deutlich runder als “Die Raumschiffbauer”.
Pastrovicchios ausdrucksstarke, actionreiche und epische Zeichnungen lassen kaum Wünsche offen, sie sind dazu noch hervorragend koloriert von Valentina Pinto (Arancia Studio).
Roboter-Reiniger (Clock Cleaners)
In dieser Zukunft wird ein Großteil der Arbeit von großen Robotern erledigt. Zu einer Feier soll der erste dieser Mechas noch einmal in Schwung gebracht werden. Micky, Goofy und Donald sind mit der Aufgabe betraut, den Roboter zu reinigen. Für die kniffligeren Probleme gibt es Professor Wunderlich. Der wird dann allerdings aus dem Verkehr gezogen und der Roboter ist auf einmal eine Bedrohung für Entenhausen…
Der Cartoon dient hier eher als Sprungbrett für eine ansonsten eher dem typischen Comic-Universum angepasste Geschichte. Die aus dem Original entlehnten Slapstick-Szenen sind daher nicht ganz so wirkungsvoll; richtig Leben in das Ganze kommt erst mit der Entführung des Roboters. Witzig, wie hier das Übersetzungschaos rund um den Hauptschurken gelöst wird – einfach beide Namen hintereinander nennen.
Paolo De Lorenzis Zeichnungen sind immer etwas steif, allerdings werden sie hier durch die Airbrush-Kolorierung aufgewertet, die zumindest dem Roboter einen gewissen 3D-Touch verpassen.
Durch das Betaversum (Thru the Mirror)
Das LTB Disney 100 endet mit der vielleicht momentan thematisch interessantesten Geschichte. Laut Inducks war der Arbeitstitel “Thru The Metaverse”, und die Themen hier sind virtuelle Realität und künstliche Intelligenz – also gerade wirklich heiß diskutierte Dinge.
Es geht um eine künstliche Realität, welche auf einmal ein Eigenleben entwickelt. Die Spieler sind in ihrem Spiel gefangen. Es ist nun an Micky, einzugreifen und das Ganze in Ordnung zu bringen. Wie auch im Film-Original muss er dabei gegen lebendige Spielkarten kämpfen.
Zeichnerisch ist das Ganze besonders spannend, da Francesco D’Ippolito und Lucio De Giuseppe zunächst einen modern-kühlen Ansatz pflegen, um die normale Welt der Zukunft darzustellen, beim Übertritt in die virtuelle Realität dann aber zu einem klassisch anmutenden, cartoonhaften Stil wechseln.
Auch interessant: Während Micky im Originalfilm die einzige bekannte Figur ist, tauchen hier auch wieder Donald Duck und Goofy auf – tatsächlich agiert das klassische Cartoon-Trio in sechs der acht Geschichten des LTB Disney 100. Auch das ein Alleinstellungsmerkmal (LTB 520 mit drei Auftritten des Trios sei aber auch an dieser Stelle erwähnt). Hier sehen die drei auch wieder so aus wie in ihren Anfangszeiten – Micky mit den großen “pie eyes” und langer Nase, Donald mit langem Schnabel und Goofy etwa plumper als gewohnt.
Am Ende wartet noch eine schöne Überraschung im LTB Disney 100 – eine zweiseitige Covergalerie mit kompletten Credits (die auf den jeweiligen Titelseiten der Comics gedruckten Angaben sind nicht komplett). Ulkig allerdings, dass die Kolorist (inn)en einfach bei “Zeichnungen” mit einsortiert werden.
Fazit
Bei Egmont Ehapa erscheint in letzter Zeit immer mehr Leerlauf, aber das LTB Disney 100 ist davon ausdrücklich ausgenommen. Ich kann für dieses Buch eine eindeutige Kaufempfehlung aussprechen – man kann viel Spaß damit haben.
Die italienische Disney-Produktion hat ja ohnehin den Ruf, diejenige zu sein, welche ihren Künstlern den größten Freiraum einräumt. Und auch wenn diese Comics im Auftrag von Disney Publishing Worldwide entstanden sind, stellen sie doch so etwas wie eine künstlerische Visitenkarte dar, welche die Qualität und Vielfalt der Zeichner vom “Stiefel” eindrucksvoll belegt.
Bleibt am Ende die Frage: Wie wird man in 100 Jahren auf diese Comics schauen? Die Tatsache, dass jeder Comic eine andere Zukunftsvision präsentiert, anstatt eines konsistenten “Entenhausen der Zukunft” (wie bei der auf Deutsch noch nicht veröffentlichten Serie “Glanz und Gloria der zukünftigen Ducks”), macht es zumindest wahrscheinlicher, dass wenigstens eine der Vorhersagen im LTB Disney 100 eintreffen wird.
Laut Nummerierung auf dem Buchrücken handelt es sich hier übrigens um die Nummer 1, aber eine Fortsetzung halte ich für eher unwahrscheinlich. Einfach weil das Thema zu speziell und die Gelegenheit zu einzigartig ist.
Prinzipiell hätte das Material auch ins LTB Premium gepasst, verglichen mit dem hat das LTB Disney 100 aber dann doch einige Seiten weniger.
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