Steven Wilson & Porcupine Tree
Nachdem es letztes Mal um traditionellen Blues ging, gibt es nun eine Band, die sehr wenig Blues im Blut hat, aber auch mein Musikjahr 2022 geprägt hat.
Steven Wilson ist ein echter musikalischer Tausendsassa: Songwriter, Produzent, Toningenieur, Gitarrist, Keyboarder, Bassist, Sänger und Remixer. Und er ist mit vielen Namen verbandelt, die auch anderweitig in meinem Jahresrückblick eine Rolle spielen: Er gehört zu den allerersten Fans von Marillion und hat sowohl mit der Band (als Produzent mehrerer Songs von marillion.com und als Mixer bei einigen Tracks von Marbles) als auch deren Ex-Sänger Fish (als Produzent von Sunsets on Empire) zusammengearbeitet. Zudem lieferte er 2017/2018 neue Mixe von Misplaced Childhood (das Album mit “Kayleigh”, nur in 5.1 Surround) und Brave (in Stereo und Surround). Mit Jethro Tull verbindet ihn eine lange Beziehung als Remixer, hat er doch bereits alle vierzehn Alben der Band bis zu The Boadsword and the Beast (noch nicht veröffentlicht) in Stereo und Surround remixt; zudem saß er bei Ian Andersons Soloalbum Thick as a Brick 2 von 2012 an den Reglern. 2014 überraschte er dann auch noch mit einem neuen Mix für Songs from the Big Chair von Tears for Fears, dem ein Jahr später The Seeds of Love folgen sollte (tatsächlich kam die Box aber erst 2020 heraus). Ansonsten kennen auch Fans von King Crimson, Yes, XTC, Gentle Giant, Steve Hackett, Opeth oder Emerson, Lake & Palmer seine Qualitäten als Remixer und Produzent.
Porcupine Tree begann Ende der 1980er als psychedelisches Ein-Mann-Projekt von Wilson, seit 1995 ist es eine “richtige” Band; als Keyboarder konnte er Richard Barbieri gewinnen, der schon zuvor Erfolg mit Japan hatte. 2001 stieß der sehr hochgeschätzte Drummer Gavin Harrison dazu und der Bandsound wurde härter. Allerdings waren die Alben dennoch zum Großteil Wilsons Vision entsprungen: Er war immer der tonangebende Songwriter, spielte neben der Gitarre auch Keyboardparts ein und ersetzte gerne mal eine Bassspur von Colin Edwin mit seinem eigenen Bassspiel. (Das ist wichtig, wenn man die neue Platte bewerten will.)
Wilson gilt als ein Vorreiter des New Artrock. Ähnlich wie die jüngeren Radiohead oder auch die späten Marillion handelt es sich hierbei um eine texturgrundierte Form von Rockmusik, die zwar ähnlich ambitioniert ist wie Progressive Rock, aber eher auf die große Geste und ausladende Klangflächen setzt als auf Virtuosität und schnelle Abwechslung. Darin ist Steven Wilson den Legenden von Pink Floyd näher als Bands wie Yes oder Genesis. Im Gegensatz dazu stehen allerdings Wilsons Vorliebe für Dissonanzen und die modernen Einflüsse aus Industrial, elektronischer Tanzmusik und Grunge, die für ein insgesamt harscheres Klangbild sorgen, was sich ab In Absentia 2002 durch einen deutlichen Metal-Einschlag noch verstärkte. Textlich behandelte Wilson von Anfang an am liebsten Abgründe der Menschheit.
Ich habe den Namen Steven Wilson zuerst 2011 kennengelernt, als er gerade “Grace for Drowning” (sein zweites Soloalbum unter eigenem Namen) veröffentlichte. Porcupine Tree waren mir da noch gar kein Begriff. Im eclipsed-Magazin wurde sein nächstes Solowerk The Raven That Refused to Sing (and Other Stories) als Meisterwerk für die Ewigkeit gefeiert, Hand.Cannot.Erase kam kaum schlechter weg. So ganz habe ich den Einstieg in sein musikalisches Universum aber noch nicht geschafft. To the Bone von 2017 (inklusive der Fanbasis-spaltenden, weil sehr poppigen Single “Permanating”) kam meinen Vorlieben deutlich näher. Der auf der dazugehörigen Tour aufgenommene Konzertfilm Home Invasion – Live at the Royal Albert Hall zeigt einerseits, wie groß das Publikum mittlerweile ist, das Wilson sich erkämpft hat, und präsentiert zugleich Wilsons Vielseitigkeit sowie sein Gespür für exzellente Mitmusiker.
Auf The Future Bites trieb Wilson seinen Kindheitstraum, ein Popstar wie David Bowie oder Prince zu sein, dann so weit, dass viele seiner alten Fans absprangen. Das ziemlich elektronische Album, das sich mit digitaler Identität und Konsumgesellschaft befasst, sollte eigentlich mit einer Multimedia-haltigen Tour präsentiert werden, aber wir wissen ja, was 2020 passierte.
Aber Wilson wäre nicht Wilson, wenn er nicht einen Ausweg aus der Sackgasse gehabt hätte. Tatsächlich hatten Steven Wilson und Porcupine-Tree-Drummer Gavin Harrison, der auch auf Wilsons erstem Soloalbum Insurgentes spielte, bereits ein Jahr nach dem letzten PT-Album The Incident gemeinsam gejammt und 2011 den Grundstein für den späteren Opener “Harridan” gelegt. Über die Jahre entwickelten sich die Songs in absoluter Geheimhaltung weiter – nur der ebenfalls dazugestoßene Keyboarder Richard Barbieri wusste noch Bescheid. Da Wilson bei den Jams einen Bass spielte, der bei Harrison herumlag, hat er das Instrument auf allen Songs des Albums gespielt, wodurch PT-Bassist Colin Edwin vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Diese Wendung (weshalb die neue Besetzung auch “Porcupine Three” genannt wurde) stieß nicht bei allen Fans auf Zustimmung.
Von einem Egotrip kann man allerdings nicht sprechen. Nachdem sich Wilson als erfolgreicher Solokünstler etabliert hatte, wäre es widersinnig gewesen, wenn er auch für Porcupine Tree weiterhin fast alles alleine geschrieben hätte. Und so finden sich bei den Komponistenangaben diverse Konstellationen – Wilson/Harrison, Wilson/Barbieri oder auch alle drei gemeinsam. Somit ist Closure/Continuation ein stärkeres Bandalbum als frühere Werke.
5. Porcupine Tree – Closure/Continuation
“Harridan” stand von Anfang an als Opener fest und wurde auch als erste Single aus dem Album ausgekoppelt. In seinen knapp acht Minuten vereint der Song dann auch alles, was Porcupine Tree in der Neuzeit ausmacht: Ein treibender Rhythmus, sphärische Klangflächen, heftige Gitarreneinschübe, schräge Keyboardsounds – aber auch ein mitsingbarer Refrain, der hängen bleibt. Am meisten beeindruckt aber, wie aus dem ursprünglichen Jam ein minutiös geplantes Stück mit einem klar erkennbaren, immer nachvollziehbaren Spannungsbogen wurde. An dieser Stelle hapert es bei manchen anderen Tracks ein bisschen, aber ich will nicht vorgreifen. “Harridan” ist jedenfalls ein Volltreffer.
“Of the New Day” klingt vom Titel her sperrig, der Inhalt ist es aber nicht: Die Ballade ist ziemlich gefällig und radiotauglich. Der Song, für den Wilson zum ersten und einzigen Mal auf dem regulären Album alleine verantwortlich zeichnet, hat die für ihn sehr typische Melancholie, aber auch Optimismus. Dass die Taktarten sehr häufig wechseln, fällt gar nicht so sehr auf. Etwas bemängeln muss ich aber eine gewisse Fahlheit, die für Wilsons Musik generell typisch ist.
“Rats Return” geht zum musikalischen Konzept von “Harridan” zurück, ist dabei aber nicht ganz so gelungen. Dreh- und Angelpunkt ist ein knüppelhartes Stakkato-Riff, das hier gewissermaßen als Refrain dienen muss. Insgesamt hätte das etwas über fünf Minuten lange Stück noch etwas mehr Abwechslung verdient. Die titelgebenden Ratten sind eine Allegorie auf Demagogen und Menschenfänger mit autoritären Anwandlungen wie Trump, Putin oder auch Boris Johnson – der Text erwähnt vier historische Beispiele namentlich (Dschingis Khan, Pinochet, Mao und Kim Il-Sung).
Mit “Dignity” folgt ein getragenes Stück, das am ehesten an die älteren Alben der Band erinnert und die Ähnlichkeiten zu Pink Floyd offen zugibt. “Dignity” hat eine der schönsten Melodien des Albums, aber es lässt sich Zeit. Zu viel Zeit: Mit sechs Minuten wäre es vermutlich der eindeutige Höhepunkt des Albums geworden, aber so zieht es sich in den leisen Stellen wie Kaugummi. Wie eine Erlösung wirkt es da, wenn das Tempo am Ende auf einmal anzieht und Wilson ein fettes Slidegitarrensolo auf den Song setzt. Warum nicht gleich so?
“Herd Culling” ist nach “Harridan” und “Rats Return” das dritte Stück nach etwa demselben Strickmuster, und genau wie “Rats Return” reicht es nicht an den Opener heran. Wieder ist der brachiale Refrain zu monoton, um die Spannung die ganze Zeit aufrechtzuerhalten. Schlecht ist das von paranormalen Vorkommnissen inspirierte Stück allerdings nicht. Im Mittelteil liefert Wilson eine hervorragende Gesangsleistung ab. Und wenn man denkt, der Spuk ist vorbei, dann brettert Harrison noch mal los und Wilson haut den Hörern ein simples, aber effektives Wah-Wah-Solo um die Ohren.
“Walk the Plank” ist nicht nur das kürzeste, sondern auch das neueste Stück und musikalisch am nächsten an The Future Bites, was bei manchen Fans auf Ablehnung stieß. In meinen Ohren war es auch zunächst gewöhnungsbedürftig, aber es wächst mit jedem Hören. Wilson hat hier keine Gitarre gespielt, sodass Porcupine Tree mit zwei Keyboardern sehr elektronisch klingen. Der Track erinnert an experimentelle B-Seiten von Tears for Fears, wird allerdings durch das verspielte Schlagzeug von Gavin Harrison deutlich aufgewertet. Nicht besonders gut gefällt mir allerdings das ziemlich kratzige Falsett, in dem Wilson den Refrain eingesungen hat. Trotzdem ein spannender Titel.
“Chimera’s Wreck” schließt das Album ab (mit Einschränkungen, s.u.) und wurde schnell zu einem Fanliebling. Einflüsse aus den 70ern sind hier am offensichtlichsten – ich höre Genesis und Mike Oldfield heraus. Der Song beginnt sehr leise mit clean gezupften Gitarren und einem mit Besen spielenden Gavin Harrison, steigert sich aber über einen drängenden Shuffle zu einem Prog-Epos (mit 7er-Takt), das fast durchgängig an Fahrt gewinnt. Abgefahrenster Teil ist das Wah-Wah-Gitarrensolo, das mich sehr an Alex Lifeson von Rush erinnert.
Der Song bietet also deutlich mehr als der Anfang vermuten lässt. Den Ruf als ewiger Miesepeter wird Wilson aber mit Zeilen wie “I’m afraid to be happy and I couldn’t care less if I was to die” nicht los.
Die Veröffentlichungspolitik ist leider etwas in die Hose gegangen. Stand Wilson eigentlich bis dato für fanfreundliche Releases, inklusive erschwinglicher Blu-Ray Discs für die Liebhaber des Surroundmixes, gab es den 5.1-Mix diesmal nur innerhalb einer recht teuren Box, die auch offenbar nicht so wertig aufgemacht ist, wie man sich das erwarten würde. Ärgerlich: In der Box gibt es auf der zweiten CD neben einer kompletten Instrumentalversion des Albums auch drei Bonus-Tracks, die auf Streamingdiensten und Download-Seiten wie selbstverständlich als Teil des Albums laufen. Wenn man also in den Laden geht und die einfache CD oder die reguläre Doppel-LP kauft, dann hat man sieben Songs, während zehn über Spotify, Tidal, Apple Music & Co. zu hören sind, und auch auf den einschlägigen Downloadstores (Amazon, Qobuz etc.) erhältlich sind. Das ist schon widersinnig.
Umso froher war ich über das zeitlich begrenzte Angebot, den Inhalt der beiden CDs als unkomprimierten Download kaufen zu können: Billiger als die physische CD, und man bekommt mehr Songs! Das mitgelieferte PDF-Booklet entspricht dem der Box, ist allerdings etwas seltsam abgeschnitten (es fehlen an den Rändern Teile der Bilder). Besonders ansprechend finde ich es eh nicht (hauptsächlich Fotos, deren einzige Gemeinsamkeit ist, dass der Designer ein weißes Quadrat in die Mitte platziert hat), aber die Songtexte sind nice to have.
Tatsächlich wirken die drei Bonustracks in meinen Ohren unabhängig vom Album besser, als wenn man sie einfach am Stück durchlaufen lässt. Dennoch gab es eine limitierte Dreifach-LP, auf der zwei der drei Stücke zwischen die anderen Songs eingefügt sind. Ausgerechnet der wohl beste der drei, “Love in the Past Tense”, war zu diesem Zeitpunkt anscheinend noch nicht fertig und fehlt darum.
“Population Three” ist ein Instrumental. Hier tritt leider Wilsons Achillesferse deutlich zutage, dass seine Stücke gerne aus einer Aneinanderreihung von Ideen bestehen, die zwischendrin nur durch Pausen verknüpft sind (diese Unart hat er von Marillion übernommen, die es aber oft eleganter lösen). Stellenweise erinnert das Stück auch erneut an Rush, ist aber insgesamt ganz typisch Porcupine Tree – eine Klangreise durch unheilvolle Orte, die am Ende immerhin wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Spannend, aber nicht ganz ohne Schwächen.
“Never Have” ist ein smarter Poprocksong, der v.a. durch eine interessante Wendung in der Bridge aufhorchen lässt. Mit seinen fünf Minuten Spieldauer ist es ein radiotauglicherer Song als die meisten regulären Albumtracks. Schön auch, dass hier mal ein Klavier auftauchen und zu Beginn sogar den Song bestimmen darf (ein bisschen wie bei “Slainte Mhath” von Marillion). Ein bisschen banal allerdings die wiederkehrende Zeile “This is the modern world”.
“Love in the Past Tense” schließlich ist ein echtes Highlight mit einem gelungenen Aufbau und eingängigen Melodien. Hier zeigt sich, dass mir melodiöse Songs tendenziell besser gefallen als dissonante (und ich meine auch, dass sie schwieriger zu komponieren sind – zumindest, wenn man offensichtliche Klischees vermeiden will).
Auf Closure/Continuation ist der Metal-Anstrich, der die erfolgreichsten Jahre von Porcupine Tree geprägt hat, ziemlich zurückgedrängt. Ab und zu langen sie zwar noch heftig zu, etwa bei “Harridan”, “Rats Return” und “Herd Culling”, aber diese Parts sind relativ selten (dadurch allerdings umso wirkungsvoller). Musikalisch erinnert das Ganze eher wieder an die songorientierte Phase der Alben Stupid Dream und Lightbulb Sun um die Jahrtausendwende, allerdings mit moderneren Keyboardsounds. Diese sorgen wohl auch dafür, dass Closure/Continuation nicht angestaubt klingt, sondern sehr gut in die Jetztzeit passt.
Die drei Bonustracks sind nicht überflüssig, sondern können qualitativ allemal mit dem regulären Album mithalten. Mehr noch: Sie bieten Facetten, die man bei den sieben Albumtracks nicht hört. Die Instrumentalversionen sind dagegen weniger interessant – besonders karaokeverdächtig sind PT nun nicht wirklich. Trotzdem für den Fan ganz nett zu hören, wie die Arrangements ohne Gesang klingen. Apropos Gesang: Wilsons Stimme ist für mich immer noch ein Schwachpunkt, weil es ihr doch etwas an Ausdruck mangelt. Aber an einigen Stellen hier macht er wirklich das Beste daraus.
Klanglich ist Closure/Continuation makellos. Wilson ist einer der wenigen Musiker, die sich klar gegen den Loudness War stellen und das Potenzial der digitalen Formate wie CD oder FLAC-Files tatsächlich ausnutzen. Als Hörer muss man den Lautstärkeregler ein wenig aufdrehen, aber die natürliche Dynamik der Aufnahmen macht diesen “Umstand” mehr als wett. Wo das Gros der aktuellen Rock- und Popproduktionen eher ein lauter Brei ist, liefert Wilson beständig HiFi-Qualität.
Auch wenn es sich nicht um ein Konzeptalbum handelt, gibt es einige wiederkehrende Motive. So taucht die Phrase “almost rain” in den ersten beiden Songs auf, und das Bild der auf das sinkende Schiff zurückkehrenden Ratten wird nicht nur in “Rats Return”, sondern auch auf “Walk the Plank” bemüht. In den Themenkomplex Wasser/Ozean gehört auch “Chimera’s Wreck”.
Werden Porcupine Tree den Erwartungen gerecht? Ich denke schon. Closure/Continuation ist vielleicht weniger durchkomponiert als frühere Alben und geht daher schwerer ins Ohr. Aber für stärker konstruierte Songs gibt es ja Wilsons Soloalben (und diverse Nebenprojekte wie No-Man oder Blackfield). In gewisser Weise kommen Porcupine Tree damit nun auch den klassischen Vorbildern etwas näher, weil sie mehr Gruppendynamik zulassen.
C/C ist kein einfaches Album und erst recht kein fröhliches. Trotzdem ist es meiner Meinung nach eines der wichtigsten im Jahr 2022, wenn man auf anspruchsvolle Rockmusik steht.
Die Tour (mit zwei neuen Mitmusikern – Randy McStine an Gitarre und Backgroundgesang sowie Nate Navarro am Bass) war ein großer Erfolg und es wird wohl ein Live-Album/Video aus Amsterdam geben. Dieses Jahr stehen einige weitere Termine an, darunter auch noch drei in Deutschland. Ob es das dann mit Porcupine Tree gewesen sein soll, weiß noch niemand. Keyboarder Richard Barbieri ist immerhin schon 65 und Steven Wilson, der zudem jüngst seine Memoiren veröffentlichte, hat bereits das nächste Soloprojekt The Harmony Codex in der Pipeline. Eine remasterte Deluxe-Ausgabe ihres Albums Deadwing von 2005 zeigt jedenfalls, dass es auch in Zukunft Veröffentlichungen der Gruppe geben wird.