Zum Abschluss das von mir am sehnlichsten erwartete Album, das 2022 erschienen ist.
Kleine und große zwischenmenschliche Dramen
Gitarrist Roland Orzabal und Bassist Curt Smith spielten seit Schultagen zusammen in Bands wie Graduate, die sogar einen kleinen Hit hatten. Anfang der 80er interessierten sich beide dann für die neuen elektronischen Strömungen des New Wave und Synthiepop. Zudem hatte Orzabal einen Narren an den Texten des Psychologen Arthur Janov (“Der Urschrei”) gefressen und Smith mit dieser Leidenschaft angesteckt, der aus einem von Janovs Sätzen den Bandnamen “Tears for Fears” extrahierte. Aus dieser eher ungewöhnlichen Konstellation wurde das Duo (plus zusätzliche Musiker wie Keyboarder Ian Stanley und Drummer Manny Elias) zu einer der stilprägenden Formationen der 80er.
Hits wie das unkaputtbare “Mad World”, “Pale Shelter”, “Change”, “Mothers Talk”, “Shout”, “Everybody Wants to Rule the World”, “Head Over Heels”, “Sowing the Seeds of Love”, “Woman in Chains” und “Advice for the Young at Heart” definieren ein Lebensgefühl. Und auch die Songs, die keine Hits waren, sind durchweg hervorragend. Allerdings entzweiten sich die beiden Kreativköpfe. Orzabal war immer der Songschreiber gewesen. Smith hatte zu Beginn fast genauso viel gesungen wie er (darunter die meisten frühen Singles), aber bei The Seeds of Love war das Kräfteverhältnis deutlich aus der Balance und nach der Tour stieg Smith aus. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Band ihre musikalische Palette stark erweitert und sich auch noch mit der großartigen Soulsängerin und Pianistin Oleta Adams verstärkt.
Roland Orzabal und Oleta Adams – zwei grandiose Stimmen
Roland und Curt sprachen ein Jahrzehnt lang nicht mehr miteinander. Curt zog zunächst nach New York, dann nach Los Angeles und hängte zwischenzeitlich (nach einem Soloalbum, das er heute für misslungen hält) das Musikerdasein an den Nagel. Roland machte zusammen mit neuen Mitstreitern, v.a. Gitarrist/Keyboarder Alan Griffiths, als Tears for Fears weiter und veröffentlichte das gute Elemental und das sehr gute, rockige Raoul and the Kings of Spain. Dann war er allerdings auch frustriert und suchte neue Wege, die zu seiner Mitwirkung an Emiliana Torrinis Love in the Time of Science (Jahre vor ihrem unerwarteten Hit “Jungle Drum”) und einem elektronischen Soloalbum namens Tomcats Screaming Outside führten. Curt Smith hatte mittlerweile den Multiinstrumentalisten Charlton Pettus getroffen und mit ihm unter dem Pseudonym Mayfield ein nettes Album veröffentlicht, das richtungsweisend für Smiths weitere Karriere werden sollten.
Als sich die beiden Alphatiere Anfang der 2000er wieder trafen, brachte Smith Pettus mit in die “Ehe” ein. Der Amerikaner stand fortan als zweiter Gitarrist auf der Bühne und schrieb an vielen Songs für das Comeback Everybody Loves a Happy Ending mit. Das Album klang weniger nach 2004 als nach 1969. Klavier, Gitarren und Mellotron bestimmten den Sound. Smith hatte sich durchgesetzt, Orzabal wollte damals elektronischer und rhythmischer agieren. Richtig erfolgreich war das beatleske Album allerdings nicht, und die (nun von großen Plattenfirmen ignorierte) Band verfiel bald in eine Art Halbschlaf. Man trat sporadisch auf, neue Musik schien aber in weite Ferne gerückt. Beide Sänger kümmerten sich um ihre Familien, Smith brachte ohne Majorlabel noch zwei kaum beachtete Soloplatten heraus.
Erste Anläufe für ein neues Werk gab es 2012. Die Wiederveröffentlichungen der ersten beiden Alben 2013 und 2014 sowie eine EP mit drei Coversongs (Ready Boy & Girls – bis heute nicht auf CD erhältlich) erhöhten die Aufmerksamkeit, zudem kamen die Sounds der 80er wieder in Mode: Tears for Fears waren nun wieder cool. Ein neues Management brachte die beiden Musiker vom Plan ab, ein weiteres Album im herkömmlichen Stil mit Charlton Pettus (der bei Happy Ending den Kitt zwischen Orzabal und Smith herstellte) zu produzieren. Stattdessen sollte es eine Reihe an Kollaborationen mit jungen Fließbandsongschreibern und -Produzenten werden (von der Band als “Speed-Dating” bezeichnet). Das funktionierte nicht wirklich, jedoch fand man mit Sacha Skarbek (u.a. Autor von James Blunts “You’re Beautiful” und Miley Cyrus’ “Wrecking Ball”) und Florian Reutter ein paar gute Kreativpartner. Smith und Orzabal hatten bei Warner unterschrieben, verkauften das bereits damals The Tipping Point genannte Album dann an Universal, die allerdings nach der als Vorbereitung für die Veröffentlichungskampagne gedachten Compilation Rule the World das bereits fertige Werk nicht in den Handel brachten.
Zu diesem Zeitpunkt litt das Verhältnis der beiden Musiker ziemlich: Smith fühlte sich mit dem Album nicht wohl. Er sah sich aus der Band gedrängt und konnte sich das Werk als Ganzes nicht anhören, weil es ihm an Abwechslung mangelte und ständig auf die Zwölf ging. Dass der Manager nach der Nicht-Veröffentlichung meinte, TFF müssten ja gar keine neue Musik veröffentlichen, frustrierte zusätzlich. Mehrfach überlegte er in dieser Zeit, Tears for Fears wieder zu verlassen. Während alledem machte Orzabal ebenfalls einiges durch: Seine Frau Caroline (die beiden waren fast vierzig Jahre verheiratet) stürzte in einen Sumpf aus Alkohol und Depressionen, und er musste sich um sie kümmern. Caroline starb 2017 und in der Folge ging Roland ein Jahr lang durch eine persönliche Hölle, die für die Verschiebung der ersten Konzerttermine in Europa seit 2005 sorgte. Als ich die Band dann 2019 endlich in Bruchsal erleben durfte, waren Orzabals Haare grau geworden und die beiden sich immer noch nicht wirklich grün. Trotzdem war es ein großartiges Konzert, mit einer Euphorie seitens des Publikums, wie ich es noch nie erlebt habe.
Nach der Tour kam Orzabal (der mittlerweile erneut geheiratet hatte) schließlich auch zu der Einsicht, dass das unveröffentlichte Album nicht wirklich die Seele der Band widerspiegelte. Die Lösung aus dem Dilemma? Fünf Songs aussuchen, auf die sich beide einigen konnten, und dann neues Material schreiben. Den Startpunkt schufen die beiden Anfang 2020 mit einer Writing-Session, bei der die Anfänge von “No Small Thing” entstanden. Dieses ambitionierte Stück war das komplette Gegenteil der vielen Versuche, einen Singlehit zu schaffen, und wies den Weg zur Komplettierung des Albums, das nun eine Dramaturgie haben sollte. Der Rest der Arbeit war dann wohl innerhalb weniger Monate geschafft; über ein Jahr ging für die Suche nach einem Label und die Veröffentlichungskampagne mit drei Vorabsingles drauf. The Tipping Point stellt mit seinen sieben Jahren Entstehungszeit das einst unerhört aufwändige The Seeds of Love deutlich in den Schatten.
Durch den schwierigen Hintergrund wurde das Album am Ende deutlich aussagekräftiger als die erste Version. 1996 sagte Orzabal einst:
I think that the perspective behind Tears For Fears is one of that things are slightly damaged, things are slightly disturbed and they need to be healed, they need to be made better. I think that is running through every album.
CD “Planet Live!”
Diesen irgendwie therapeutischen Ansatz haben Tears for Fears mit Marillion gemeinsam. Und genau wie An Hour Before It’s Dark hat auch The Tipping Point vielen Hörern bereits geholfen, dunkle Zeiten zu überstehen.
1. Tears for Fears – The Tipping Point
Das Albumcover ziert ein stimmungsvolles, surreales Gemälde von Cinta Vidal. Weniger schreiend fröhlich als das “Happy Ending”-Artwork, sorgen die Katzen für schöne Akzente im eher gedeckten Ambiente.
Der Opener “No Small Thing” war die zweite Single und eine faustdicke Überraschung. Wer hätte schon erwartet, dass Tears for Fears plötzlich mit Lagerfeuergitarre und einem ungewöhnlich tief singenden Roland Orzabal in die Country/Americana-Richtung gehen würden? Von den Jungs gerne mit Johnny Cash verglichen, höre ich eher Ähnlichkeiten zu The Band heraus, nicht zuletzt dank den von Keyboarder Doug Petty gespielten Orgel- und Akkordionparts. Aber TFF wären nicht TFF, wenn sie nicht mehr daraus machten. Der Song wechselt zu einem magischen Teil, wie ihn so nur Orzabal schreiben und singen kann (“reason gonna blind you…”) und baut sich dann schrittweise zu einem großen Epos auf, das (wie schon “Shout”) die Drums von Led Zeppelins “When the Levee Breaks” sampelt, in einem mitreißenden Refrain gipfelt und mehrere Crescendos durchmacht. Der zweite dieser düster-intensiven Teile bricht dann am Moment höchster Konfusion dramatisch ab.
Damit ist der Boden bereitet für den Titelsong und die erste Single. “The Tipping Point” beginnt mit zarten elektronischen Klangmalereien und schwingt sich zu einem Stück auf, das stark an die 80er erinnert (der Rhythmus von “Everybody Wants to Rule the World”, ein “Head Over Heels”-artiges Klaviermotiv und die Akkordsequenz von “Shout”), jedoch trotzdem klar als Produkt der späten 2010er erkennbar ist. Orzabal und Smith haben selten fast durchgängig im Duett gesungen, aber hier tun sie es. Orzabal verarbeitet im Text seine schwierigen Erfahrungen, sodass der Text existenzielle Fragen stellt: Wann ist ein Mensch mehr tot als lebendig? Fängt man schon zu trauern an, wenn die Person noch offiziell am Leben ist?
Zunächst war mir “The Tipping Point” zu elektronisch (die Gitarre verschwindet leider nach ihren anfänglichen Akzenten im Mix) und zu überladen, aber im Laufe der Zeit habe ich das Stück lieb gewonnen. Ernsthafte Themen waren der Grund für die Gründung von Tears for Fears und als Comeback-Single hat “The Tipping Point” diesen Aspekt weitaus besser verkörpert als “I Love You But I’m Lost”.
“Long, Long, Long Time” ist dann ein Song, der mich zunächst ratlos zurückließ. Sperrig ist nicht nur der 7er-Takt der Strophe, sondern auch die völlig verquere Melodie, die Curt Smith singt – sehr typisch für sein Solowerk, woran man mal wieder erkennt, dass Orzabal das melodische Genie der Band ist. Der Refrain plustert sich dann groß auf, Carina Rounds Stimme hat aber nicht die Tiefe einer Oleta Adams oder die Rauheit von Steven Wilsons bevorzugter Duettpartnerin Ninet Tayeb. Eine Bridge oder ein Gitarrensolo hätten den Song deutlich aufwerten können.
Geradliniger wird es bei “Break the Man”, der dritten Single, bei der schon wieder Curt als Sänger und Songwriter (mit seiner “rechten Hand”, Gitarrist Charlton Pettus) in Erscheinung tritt. Der Song ist allerdings auch etwas beliebig geraten, wobei die Meinungen der Fans hier weit auseinandergehen und einige das Stück für die beste Single der Band seit 1993 halten. Die E-Drum-Fills klangen schon 1993 veraltet, aber eine gewisse Atmosphäre kann ich dem Song, der sich laut hörbar an “Pale Shelter” und “Advice for the Young at Heart” orientiert, nicht absprechen. Textlich geht es um starke Frauen, die das Patriarchat zerstören. Klar, dass so etwas von einem Vater zweier Töchter kommt.
Mit “My Demons” folgt dann allerdings die Orzabal-Breitseite. So wahnwitzig und ausgeflippt hat man den Künstler seit seinem Soloalbum Tomcats Screaming Outside von 2001 nicht mehr gehört. Der Mix aus Gitarren und elektronischen Sounds im Shufflerhythmus erinnert an Depeche Mode (speziell “Personal Jesus”), aber Orzabal garniert das von Sacha Skarbek und Florian Reutter vorgelegte Gerüst mit jeder Menge wilder technischer und textlicher Ideen. Der roboterhafte Effekt auf seiner Stimme (eine Oktave nach unten gepitcht und mit der normalen Gesangsspur gemischt) ist ein bisschen irritierend, passt aber zum Stück.
Einen ruhigen Kontrapunkt setzt danach “Rivers of Mercy”. Beginnend mit einem Klavier- und Gesangsintro, das ein wenig an “On Every Street” von Dire Straits erinnert und dann mit dem dezenten Akkordeon den Faden von “No Small Thing” fortspinnt, entwickelt sich der Song danach mit viel Peter-Gabriel-Feeling zum Nachfolger von “Woman in Chains”. Das längste Stück des Albums ist angesichts des zum VÖ-Zeitpunkt ausgebrochenen Ukrainekriegs zu einem sehr bedeutenden Titel für viele Fans geworden, drückt es doch die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden angesichts tobender Gewalt aus. Ähnlich wie beim Opener beginnt Orzabal zunächst in einer tiefen Stimmlage, schwingt sich dann aber zu dem kristallklaren Gesangsstil auf, den er seit “I Believe” erfolgreich kultiviert.
“Please Be Happy” kennt der TFF-Fan bereits als – musikalisch nahezu identisches – Demo von Orzabal, das dieser einst kurz vor dem Tod seiner Frau bei Soundcloud hochlud. Noch vor dem Titeltrack ist es der persönlichste Song des Albums, der schonungslos den Verfall eines geliebten Menschen beschreibt und die sinnlose Verzweiflung des Partners, der sich das hilflos anschauen muss. Umso überraschender die Tatsache, dass das Stück nun von Curt Smith gesungen wird. Offenbar ging es Orzabal zu nahe. Auch jetzt meint er, er könne sich den Song kaum anhören. Zwar passen beide Stimmen zum Liedes, allerdings war Orzabals Demo doch irgendwie anrührender, während Smith hier etwas zu unpersönlich klingt. Es könnte auch damit zusammenhängen, dass das Stück an Smiths Stimmlage angepasst wurde, sprich: einen Ganzton höher geschraubt und dabei auch beschleunigt. Dafür kann die Albumversion mit besserem Sound aufwarten. In jedem Fall ist es eine textlich traurige Ballade mit Klavierbasis und geschmackvollem Streicherarrangement.
Mit “Master Plan” gibt es dann endlich den Griff in die Beatles-Kiste. Orzabal nimmt hier das frühere Management aufs Korn und schüttelt mal eben ein Meisterwerk aus dem Ärmel. Die gesangliche Verbeugung vor den Fab Four funktioniert so gut wie eh und je, der Song steckt voller toller Melodien und Akkordwechseln. Slidegitarren und gesampelte Streicher sorgen für ordentlich Dramatik. Am Ende versteckt sich mit dem Sample “Last train to Norwich” eine Anspielung auf die großartige B-Seite von “Break It Down Again”, “Schrödinger’s Cat”.
Ein weiterer alleine von Orzabal geschriebener und gesungener Song folgt mit “End of Night”, allerdings ist dieser nicht so geglückt. Zunächst fällt negativ auf, dass die Band hier bereits zum dritten Mal auf einen Shuffle-Rhythmus zurückgreift, was bei “Everybody Wants to Rule the World” eigentlich mal eine Ausnahme war. Dann ist die Auswahl der elektronischen Sounds leider ziemlich missraten – der Hook klingt verzerrt, im Bassbereich wummert es aufdringlich, und ein wiederholtes ansteigendes Fiepen lässt mich ernsthaft an der Geschmackssicherheit der Band zweifeln. (Steven Wilsons Surroundmix – s.u. – ist nicht nur um ein Vielfaches dynamischer, sondern verzichtet hier auch auf einige der nervigsten Sounds. Man hätte Wilson auch mit dem Stereomix beauftragen sollen.)
“Stay” war schon bei seiner Veröffentlichung auf “Rule the World” 2017 nicht wirklich gut angekommen und auch jetzt ist der zweite Smith/Pettus-Song des Albums kein wirklich befriedigender Abschluss geworden, auch wenn die Band die Produktion etwas entschlackt hat. Smith müht sich redlich, bekommt aber keine durchgängig schlüssigen Melodiebögen hin. Dass dieser Song es auf das neue Album geschafft hat, das bessere (wenn auch gnadenlos überproduzierte) “I Love You But I’m Lost” allerdings nicht, hat bei einigen Fans für Stirnrunzeln gesorgt.
Die Aussage der Band und auch einiger Kritiker, The Tipping Point sei das beste Tears-for-Fears-Album überhaupt, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Die drei von Curt dominierten Songs sind für mich allesamt nicht überragend, und “End of Night” ist mir zu aufdringlich. Weiterhin fehlen mir Gitarrensoli und die bislang auf jedem Album der Band vorhandenen fließenden Übergänge. Beim ersten Hören wirkte The Tipping Point auf mich mehr wie eine Compilation als wie ein zusammenhängendes Album. Allerdings kannte ich auch schon fünf der Songs (die drei Singles, “Stay” von der Best-of und “Please Be Happy” als Demo).
Andererseits geben sich TFF keine Blöße: Mit diesen zehn Songs unterstreichen sie einmal mehr, dass sie eine der talentiertesten und ambitioniertesten Popbands aller Zeiten sind und ihre künstlerische Vision höher halten als die Versuche, sich auf Biegen und Brechen bei einem jungen Publikum anzubiedern – witzigerweise haben in den letzten Jahren sowieso viele Teenager die Band in ihr Herz geschlossen, ohne dass es die Kollaborationen mit jüngeren Künstlern gebraucht hätte. The Tipping Point ragt wie ein Monolith aus der Musiklandschaft heraus. Es gibt Interpreten, die mehr Hits auf einem Album unterbringen, und solche, die anspruchsvollere Musik produzieren. Aber nur wenige schaffen den Spagat zwischen eingängigen Melodien und ausgeklügelten künstlerischen Konzepten so gut wie Tears for Fears.
Schade ist, dass sie sich beim Mastering dann doch dem kleinsten gemeinsamen Nenner annäherten und Ted Jensen engagierten, der von Audiophilen spätestens seit Metallicas Death Magnetic (das laut ihm allerdings schon in kaputter Form zu ihm kam) gefürchtet wird und dafür sorgte, dass The Tipping Point sogar noch lauter ist als die von Stephen Marcussen gemasterte US-Version von Everybody Loves a Happy Ending, allerdings etwas besser als die europäische Version jenes Vorgängeralbums abschneidet. Darunter leidet die Hörbarkeit zwar nicht übermäßig, aber man wünscht sich schon, dass der Titelsong so viel Platz zwischen den Noten hätte wie einst “…Rule the World” oder dass “Rivers of Mercy” sich ähnlich weit wie “Woman in Chains” entfalten könnte. Die Vinylausgabe scheint auch nicht sonderlich gut gelungen zu sein.
Diesmal gibt es allerdings Rettung in Form von – mal wieder – Steven Wilson, der Surroundmixe anfertigte, welche weniger in ihrer Dynamik beschnitten sind. Den Atmos-Mix kann man bei Streamingdiensten hören; 5.1 ist auf eine limitierte Blu-Ray beschränkt, die in Kollaboration mit der englischen Internetseite SuperDeluxeEdition entstanden ist und mich ordentlich Steuern und DHL-Gebühr gekostet hat. Eine gelungene Alternative zur CD. Am stärksten ist der Unterschied bei “My Demons”, dessen Drums im Wilson-Mix eine drückende Wucht haben, die im Stereomix weglimitiert wurde.
(Wilson produzierte soeben übrigens auch neue Mixe – 5.1, Atmos, Instrumental – des 1983er Debüts The Hurting, die wiederum nur über SDE erhältlich sind. Die Vorbestellung ist nur noch bis zum 17. März möglich; wer also eine Blu-Ray haben will, sollte sich beeilen!)
Drei Bonustracks
Auf derselben Seite gab es zuvor schon eine besondere CD-Edition von The Tipping Point, die ebenfalls auf 2000 Stück begrenzt war und neben einem von Paul Sinclair geführten Interview (auch online zu lesen) mit allen drei Bonustracks aufwarten kann, die ansonsten auf die Deluxe-Editionen in verschiedenen Territorien verteilt sind (“Secret Location” in Europa und Großbritannien, “Let It All Evolve” und “Shame (Cry Heaven)” in Japan sowie in den USA als Target-Exclusive) und auf Streamingdiensten fehlen. Alle drei hätten einen Platz auf dem regulären Album mehr als verdient. Und interessanterweise wurden sie von einem anderen Toningenieur gemastert (Justin Shturtz), der den Songs gleich mal etwas mehr Dynamik ließ.
Das mit atmosphärischen Soundeffekten angereicherte “Secret Location” ist ähnlich tanzbar geraten wie “Break the Man”, hat aber die stärkeren Melodien und Akkordwechsel aufzuweisen. Orzabal ist hier der Hauptsänger und weckt Erinnerungen an seine Werke Anfang der 1990er, Smith singt aber auch einiges und sorgt mit starken Basslinien für Aufsehen. Eine niedliche Glockenspiel-Melodie beschließt den Song.
Noch stärker an Orzabals 90er-Stücke, hier besonders an die B-Seiten aus der “Raoul and the Kings of Spain”-Ära erinnert “Let It All Evolve”, das von Anfang an eine spürbare Spannung aufbaut. Die Kombination an spooky Sounds und einem eindringlichen Akustikgitarren-Motiv ist Orzabal at his best. Auch danach gibt es keinen einzigen Fehltritt. Orzabals Stimme ist hier so ausdrucksstark und einzigartig wie eh und je. Beim Mittelteil mit Gitarrenbreaks und Orgel kommt sogar mal ein richtiges Rock-Feeling auf. Grandios! Einer der besten TFF-Songs überhaupt. Dass dieser Track regulär lediglich in Japan und den USA zu haben ist, ist schon dreist.
Der dritte Bonus “Shame (Cry Heaven)” macht auch ordentlich Eindruck. Hier haben wir noch mal Curt Smith am Mikrofon. Das Stück ist stärker elektronisch geprägt als die anderen beiden Bonustracks, aber es wirkt nicht so ziellos wie “Stay”. Die Gesangsmelodien sind nachvollziehbarer. Und anders als einige Songs auf dem Album lässt sich auch dieser Bonustrack Zeit zur Entwicklung. Er fällt aber gegenüber “Secret Location” und “Let It All Evolve” ein wenig ab.
Wenn man die Spezialausgabe irgendwie ergattern kann, ist sie eine echte Bereicherung für eine TFF-Sammlung. Alternativ kann man natürlich immer noch die europäische und die amerikanische Deluxe-Edition kaufen, dann hat man auch alle drei Bonussongs (und das reguläre Werk doppelt).
Auch nach der Veröffentlichung war teilweise leider der Wurm drin. Smith brach sich bei einem Sturz mehrere Rippen und die UK-Tour musste abgebrochen werden. Einige Wochen später tauchte die Band allerdings in Deutschland auf, als Stargäste beim deutschen Radiopreis 2022:
Kurz darauf spielten sie eine kostenlose Show (!) beim Bayern-1-Festival “Summer of Music” in Landshut, was ich leider zu spät feststellte. Für 2023 werden allerdings neue Tourtermine erwartet; hoffentlich gibt es dann auch wieder reguläre Auftritte in Deutschland. Die Konzerte vor dem Abbruch der Tour stießen durchweg auf Begeisterung.
Damit endet meine Retrospektive eines für mich außergewöhnlich starken Musikjahres. Ich hoffe, der oder die ein oder andere Leser/in hat Gefallen daran gefunden!