7. John Mayall – The Sun is Shining Down
Dass ein Genre plötzlich in einem anderen Kulturkreis als dem ursprünglichen heftig einschlägt, gibt es nicht erst seit BTS (K-Pop). In Frankreich wurde der Jazz in den 1940ern sehr populär, und in Großbritannien war es in den Sechzigern der Blues. Plötzlich interessierten sich viele englische Jugendliche für die Musik der Afroamerikaner. Diesen Umständen haben wir z.B. die Rolling Stones oder auch die letztes Mal besprochenen Jethro Tull zu verdanken. Ein Mann gilt dabei als der “Father of British Blues”, John Mayall. Neben Alexis Korner, Long John Baldry und Cyril Davies war er eine der führenden Figuren der damaligen Szene.
Durch Mayalls Band, die Bluesbreakers, gingen so illustre Namen wie Eric Clapton, Peter Green, Mick Taylor, Dick Heckstall-Smith, John Hiseman, John McVie oder Mick Fleetwood, die dann in Bands wie Cream, Colosseum, Fleetwood Mac oder den erwähnten Stones (im Falle von Mick Taylor) Rockgeschichte schrieben. Mayall stand in seiner Band aber immer im Vordergrund, mit seiner ausdrucksstarken hohen Stimme, solider Tastenarbeit, wilder Mundharmonika und gelegentlich etwas unbehauenem Gitarrenspiel. Nachdem ihm die laute E-Gitarrenmusik langweilig geworden war, setzte er mit einer akustisch besetzten Band Jahrzehnte vor MTV Unplugged neue Maßstäbe und wandte sich eine Zeitlang dem eher jazzigen Blues zu (mit Violine oder Bläsern), kehrte aber später wieder zum klassischen Format zurück.
Im Gegensatz zu vielen seiner Protegés hat Mayall nie den wirklichen Riesenerfolg gehabt, aber darauf kam es ihm vermutlich auch nicht an. Vielmehr war er sein Leben lang live unterwegs, oft mit schnell wechselnden Besetzungen. 2009 mottete er den Bandnamen “Bluesbreakers” endgültig ein; mit einer neuen Besetzung, zu der auch Bassist Greg Rzab und Drummer Jay Davenport gehörten, veröffentlichte er das Album Tough, und der Titel beschreibt Mayall auch schon ganz gut. Manche Menschen sind einfach außergewöhnlich. Ich habe John Mayall 2019 live gesehen, da war er schon 85. Die Stimme war nicht mehr so geschmeidig wie früher und Gitarre hat er nie wirklich hervorragend beherrscht, aber an Mundharmonika und Keyboards hat er nach wie vor absolut solide Arbeit abgeliefert, unterstützt von einer grandiosen Band.
2022 nun gab es endlich das eigentlich schon für 2020 geplante Album The Sun Is Shining Down. Ein bisschen enttäuschend finde ich es, dass die von mir gesehene Besetzung kein komplettes Album aufnehmen durfte – die wunderbare und ungemein sympathische Gitarristin Carolyn Wonderland kommt nur beim Titelsong zum Zug und spielt bei sieben weiteren Tracks Rhythmusgitarre. Stattdessen setzt Mayall auf dasselbe Star-Konzept wie schon bei Nobody Told Me von 2019, begleitet von der erwähnten Rhythmusgruppe. Immerhin sind die Gäste andere als 2019, und neben naheliegenden Namen wie Melvin Taylor und Jungstar Marcus King tauchen auch eher unerwartete Musiker auf, wie Geigerin Scarlet Rivera oder Ukulele-Virtuose Jake Shimabukuro. Zur Kategorie “bekannt, aber unerwartet” zählt Mike Campbell von Tom Petty & The Heartbreakers.
Wie oft bei Mayall gibt es auch hier einen Mix aus alten und neuen Songs, Fremd- und Eigenkompositionen. Wie fast immer bei Mayall-Alben sind die Tonarten auf dem Cover angegeben – nur eine wiederholt sich. Das Cover stammt diesmal nicht von ihm selbst, ist aber an seinen typischen Stil angelehnt.
“Hungry and Ready” legt gleich die Richtung fest. Nicht nur Melvin Taylors elegante Gitarre erinnert an B.B. King, auch die schmissigen Bläsersätze in diesem schwungvollen Shuffle. Im lakonischen Text stellt sich Mayall selbst als Player dar, aber mit Augenzwinkern. Mundharmonika und Klavier duellieren sich mit Taylors Gitarre. Alles in allem ein hervorragender Opener.
“Can’t Take No More”, eine weitere Eigenkomposition, geht in eine modernere, funkige Richtung – weiterhin mit Bläsern, aber Mayall wechselt vom Klavier an die Orgel. Als Gast ist das Nachwuchstalent Marcus King (26!) dabei. Auch nicht zu verachten ist die Rhythmusgitarre von Billy Watts.
“I’m As Good as Gone” von Bobby Rush (ein Name, den man sich merken sollte!) war die erste Single und lange Zeit das Einzige, was von dem Album zu hören war – der Song kam bereits im Coronasommer 2020 heraus, das Album ließ dann aber noch lange auf sich warten. Der Song nimmt Tempo raus und hat einen etwas düsteren Touch. Mayall ist nach wie vor an der Orgel, sein Gesang klingt aber etwas brüchiger als bei den vorigen Songs. Gast Buddy Miller spielt eine tiefer gestimmte oder eine Bariton-Gitarre.
“Got To Find a Better Way” bricht das bisherige Klangkonzept auf: Mayall spielt E-Piano, Jay Davenport trommelt einen luftigen Rumba, und anstelle einer E-Gitarre spielt der Stargast Violine: Es handelt sich um die einst von Bob Dylan (“Hurricane”) entdeckte Geigerin Scarlet Rivera. Ihr expressives, singendes Spiel passt wunderbar zum melancholischen Song.
“Chills and Thrills” von Bernard Allison schmeißt wiederum die Funkmaschine an (erneut dank Billy Watts und Mayalls Orgel). Als prominenter Gast spielt Mike Campbell von Tom Petty and the Heartbreakers superb Leadgitarre. Aber Mayall lässt es sich auch nicht nehmen, mal eben noch am E-Piano ein Solo zu spielen.
“One Special Lady”, ein eigener Song, ist ein attraktiver luftiger Shuffle. Mayall spielt diesmal ein langes Solo auf der Orgel, bevor der Gast sich austoben darf. Jake Shimabukuro heißt der und spielt (in diesem Fall elektrische) Ukulele – wenn man es nicht wüsste, könnte man es für eine E-Gitarre halten!
“A Quitter Never Wins” von Tinsley Ellis und Margaret Sampson, kommt ohne Gastauftritt aus. Der eher langsame Blues stellt Mayalls altersweisen Gesang und sein trauriges Mundharmonikaspiel in den Vordergrund, untermalt mit atmosphärischer Orgel.
“Deep Blue Sea” ist ein Mayall-Song, aber kein neuer: Ursprünglich veröffentlichte er das Stück 1970 auf dem Album USA Union, damals mit Sugarcane Harris an der Geige – daher bot es sich geradezu für ein Remake mit Scarlet Rivera an. Diesmal ist der Meister wieder am Piano. Der lebendige Song gefällt nach wie vor, und fällt nicht wirklich durch Bluesklischees auf.
“Driving Wheel” gehört wohl zu den am häufigsten aufgenommenen Bluesstandards. Ich habe in meiner Sammlung u.a. Versionen von B.B. King & Glenn Frey, The Steve Miller Band oder Bobby Bland. Mayalls Version ist in einem gesunden Midtempo gehalten. Sein Gesang und Orgelspiel werden von Melvin Taylors etwas schräger Gitarre und den endlich wieder zu hörenden Bläsersätzen komplementiert. Taylor bekommt so viel Raum, dass eine Strophe unter den Tisch fällt. Seltsam.
Beim entspannten Titelsong bekommt dann endlich auch Carolyn Wonderland den ihr zustehenden Platz. Mayall hat immer betont, dass Großbritannien ihm nie sonderlich gefallen hat und so ist “The Sun Is Shining Down” eine weitere Ode an seine Wahlheimat Kalifornien. Wonderlands Solospiel macht ganze Klangräume auf. (Auf ihrem 2021er-Album Tempting Fate hat sie übrigens Mayalls Klassiker “The Laws Must Change” gecovert.)
Leider hat es der Produzent Eric Corne nie wirklich geschafft, die Wucht der Rhythmusgruppe Rzab/Davenport einzufangen, die sie live immer wieder bewiesen haben. Davon abgesehen ist The Sun is Shining Down aber ein äußerst unterhaltsames Bluesalbum eines Meisters, dem man zumindest hier sein Alter noch nicht anhört. Das Album ist qualitativ ähnlich gut wie die Vorgänger A Special Life, Find a Way to Care, Talk About That und Nobody Told Me.
Ganz so unverwüstlich, wie man meinen mag, ist der alternde Herr aber doch nicht: Ende Februar 2022 brach er bei einem Auftritt zusammen. Die Zeiten der Touren sind für ihn wohl vorbei. Neue Alben von ihm könnte es evtl. noch ein paar geben, aber das Video seines offenbar letzten Auftritts zeigt leider deutlich, dass das Alter ihn doch eingeholt hat. Aber gut, 89 ist auch schon wirklich ein stolzes Alter, und ich hoffe, dass er seinen Ruhestand genießen kann.
6. Buddy Guy – The Blues Don’t Lie
Noch so ein Urgestein. George Guy, bekannt als Buddy Guy, zählt zu den wenigen verbliebenen Legenden des Chicago-Blues. In dessen Blütezeit war er einer der “Youngster”, aber er wurde schnell eine Marke für sich. Sein exaltiertes Gitarrenspiel hat viele berühmtere Blues- und Rockmusiker beeinflusst, u.a. Eric Clapton, Jimi Hendrix oder Stevie Ray Vaughan. Auch der jüngst verstorbene Jeff Beck gehörte zu seinen Fans und spielte gerne mit Guy zusammen. Im 2006 aufgenommenen Konzertfilm Shine a Light der Rolling Stones hat er einen phänomenalen Gastauftritt. Bereits zuvor hatte Regisseur Martin Scorsese den Showman für den Film Lightning in a Bottle hervorragend eingefangen – die beiden sehr unterschiedlichen Performances von “Just Can’t Be Satisfied” und “First Time I Met the Blues” würde ich jedem empfehlen, der einen Crashkurs in Sachen Blues braucht.
Seit Skin Deep von 2008 arbeitet Buddy Guy mit Tom Hambridge zusammen, der Schlagzeuger, Songschreiber und Produzent aller seiner Alben seit 2008 ist. Die Qualität der Alben und Songs ist dabei nicht unbedingt durchweg konsistent – Born to Play Guitar von 2015 z.B. fand ich deutlich stärker als den Nachfolger The Blues is Alive and Well (2018). Nun also The Blues Don’t Lie, verpackt in ein schlichtes, aber edles Design, das sehr an die 1950er-Jahre erinnert.
Gleich beim Opener brettert der alte Herr allerdings mit einer Wildheit los, die man einem Achtzigjährigen nie zutrauen würde. “I Let My Guitar Do The Talking” heißt der Knaller – und das Versprechen wird 100% eingelöst. Produzent Tom Hambridge, Orgel-Koryphäe Reese Wynans und die Bläser machen unglaublich Druck, aber im Mittelpunkt steht das entfesselte, oft durch ein Wah-Pedal gejagte Gitarrenspiel des Meisters. Zum Niederknien!
Der Titelsong schlägt dann in die Minor-Blues-Kerbe, was Buddy Guy schon immer extrem gut konnte. Ob bewusst oder nicht, bei den Licks schimmert immer mal wieder B.B. King (“The Thrill Is Gone”) durch.
Es folgt der erste und leider einzige Song, den Guy alleine geschrieben hat – das programmatische “The World Needs Love”, das genauso gut aus den 70ern stammen könnte. Spannungsgeladener Slow Blues war auch immer eine Stärke des Musikers. Kevin McKendree liefert hervorragende Begleitung am Klavier, die an Guys einstigen Mitstreiter Junior Mance erinnert. Ein sehr “sprechendes” Gitarrensolo setzt dem Stück die Krone auf. Aber auch: Wie gut der Mann immer noch singen kann! Man glaubt ihm einfach jedes Wort.
Mit “We Go Back” beginnt eine fast durchgängige Reihe von Duetten, was man durchaus kritisch sehen kann. Aber anders als etwa auf B.B. Kings Album 80 geht es hier nicht darum, alte Songs noch einmal aufzuwärmen. Alle Songs mit Gastauftritten sind neu. Und Soulsängerin Mavis Staples hat sich ihren Platz an der Seite des Elder Statesman mehr als verdient. Beide lassen sich auf den düsteren Groove ein, der hier v.a. von McKendree’s Arbeit an Wurlitzer-E-Piano und Hammondorgel geprägt ist.
Unpassender ist da schon die Zusammenarbeit mit Elvis Costello, den man nicht wirklich im Bluesverdacht hatte und der am Ende auch kaum mehr als acht Zeilen singt. Leider ist auch der Song etwas durchschnittlich geraten und der Verzerrungseffekt auf Guys Stimme nervt mich eher. Ohne das Drumherum wäre “Symptoms of Love” aber womöglich eine gelungene Hommage an die hypnotischen Ein-Akkord-Nummern von Howlin’ Wolf geworden.
Auch überraschend der nächste Gast, allerdings hat James Taylor durchaus ab und zu einen Blues zum Besten gegeben (z.B. bei Eric Clapton’s Crossroads Guitar Festival). Interessanter ist aber die Gelegenheit, Guy mal auf der akustischen Gitarre zu hören, was angenehm an Folk Singer (ein Album von Muddy Waters, auf dem der junge Guy 1964 Gitarre spielte) erinnert. Textlich nehmen sich die beiden bei “Follow the Money” Korruption vor, was im Blueskontext eher ungewöhnlich ist.
“Well Enough Alone” ist der einzige Song ohne Gastbeitrag zwischen Track 4 und 10. Der Anfang verspricht eine weitere Retro-Nummer, aber dann wird doch schweißtreibender Bluesrock daraus. An sich alles gut, aber Guys Stimme klingt merkwürdig unnatürlich – hat Tom Hambridge da etwa Autotune benutzt? Ts, ts. Der Text bemüht Voodoo-Begriffe, aber man sollte eh mehr auf die Gitarre achten – die ist nämlich wirklich wie verhext.
“What’s Wrong With That” basiert auf dem Grundgroove von Lowell Fulson’s “Tramp” (welches Guy auf seinem rauesten Album Sweet Tea coverte). Der Gast hier ist Bobby Rush, ein Zeitgenosse (s.o.!) – drei Jahre älter und anders als Guy hört man seinem Gesang das Alter auch an. Dafür spielt er aber am Ende eine fantastische Mundharmonika und man fragt sich, wieso die nicht schon vorher zum Einsatz kam.
“Gunsmoke Blues” war die erste Single und ist nicht wirklich repräsentativ, aber wichtig. Jason Isbell ist ziemlich genau halb so alt wie Buddy Guy, aber beide eint offensichtlich das Entsetzen über die in den USA mittlerweile zum Alltag gewordenen Schießereien und der atmosphärische Song bringt das auch gut rüber.
“House Party” setzt danach einen etwas zu starken Kontrast. Die von Hambridge geschriebenen Partysongs sind nicht mein Fall (“Whiskey for Sale” war richtig schlecht), aber mit einem Jimmy-Reed-Shuffle kann man zumindest nicht allzu viel falsch machen. Wendy Moten (immerhin schon 58) fällt auch nicht weiter negativ auf.
“Sweet Thing” ist die offensichtliche Hommage an B.B. King. Eine Variante von “Sweet Sixteen”, die der König des Blues auf seinem 1959er Album B.B. King Wails aufgenommen hat – und das Cover ist sehr respektvoll. Interessant: Während Guys Solo spielt Rob McNelley auf der zweiten Gitarre die ursprünglichen Bläserparts.
Etwas albern dann “Back Door Scratchin'”, bei dem eine Hundemetapher das Offensichtliche nur oberflächlich verdecken kann (dass das lyrische Ich mit dem Schwanz wedelt, klingt auf Deutsch aber auch noch blöder als im englischen Original). Für Guy hauptsächlich ein Grund, mal so richtig die Sau auf dem Griffbrett herauszulassen.
Die Aufmerksamkeit, die der Beatles-Serie “Get Back” von Peter Jackson zuteil wurde, ist auch an Buddy Guy offenbar nicht vorbeigegangen. Ja, Buddy Guy covert die Fab Four! “I’ve Got a Feeling” passt aber erstaunlich gut in seinen Kosmos und lockert zugleich das Album auf, wozu auch ein paar Töne auf der elektrischen Sitar beitragen. (Ich frage mich übrigens, ob der Break einst ZZ Top zu “I’m Bad, I’m Nationwide” inspiriert hat.)
“Rabbit Blood” besingt der alte Hase dann, was hier anscheinend für den ausgeprägten Sexualtrieb einer Frau steht. Die Musik ist ganz Oldschool – Blues mit Klavier und Kontrabass, allerdings hält sich Guy an der Gitarre nicht so zurück, wie es Leonard Chess einst von ihm verlangte, bis dann auf einmal ein gewisser Jimi Hendrix genau mit diesem explodierenden Spielstil Furore machte…
Der entspannt groovende Shuffle “Last Call”, der das Ende einer Beziehung feiert, schlägt auch in die Retro-Richtung. Diesmal lässt Guy auch Platz zwischen den Gitarrennoten.
“I’m a King Bee” von Slim Harpo beschließt nicht nur die Reihe der Songs mit sexuellen Tiermetaphern, sondern auch das Album. Diesmal gibt es den Schelm mit den Polkadots ganz pur, solo und unplugged. Ein passender Abschluss für ein ansonsten extrem vitales “Alterswerk”.
Man kann sich natürlich fragen, wie viel Neues Buddy Guy noch zu sagen hat. Aber eigentlich ist das “Was” beim Blues eh nicht so entscheidend wie die Frage nach dem “Wie”. Verglichen mit dem, was B.B. King in seinen letzten Karrierejahren veröffentlicht hat, ist The Blues Don’t Lie eindeutig ein Meisterwerk. Qualitativ steht es etwa auf Augenhöhe mit Born to Play Guitar.
Buddy Guy hat mittlerweile auch seine Abschiedstour angekündigt, aber in der Form könnte er diese durchaus auf mehrere Jahre ausdehnen.
Im nächsten Teil der Serie geht es dann wieder in eine etwas andere Richtung. Es wird stachelig!