Heute vor einem Jahr erschien eines der drei Alben, die mir 2022 am meisten gefallen haben.
Von ungeliebten Dinosauriern zu Crowdfunding-Pionieren
Marillion gehören zu den am meisten polarisierenden und am meisten missverstandenen Bands. Wem der Name ein Begriff ist, der sortiert sie gerne aufgrund ihres Hits “Kayleigh” in der Softrock-Ecke ein und degradiert sie mal eben noch zum One-Hit-Wonder. Regelmäßig werden Konzertgänger kalt erwischt, weil sie live etwas ganz Anderes zu hören bekommen als einen Abend voller “Kayleighs”. Tatsächlich waren und sind Marillion deutlich ambitionierter. Gestartet waren sie als Progressive-Rock-Band mit starken Einflüssen von Genesis und Camel – Sänger Fish brachte neben einer Vorliebe für Van der Graaf Generator und einer Stimme, die an beide Genesis-Sänger (Peter Gabriel und Phil Collins) erinnerte, auch eine etwas schroffere Punk-Attitüde mit. Aus dieser Gemengelage entstand schließlich der sogenannte Neoprog, eine Stilrichtung, die weniger wild und stiloffen experimentierte wie die ersten Progbands der späten 60er und frühen 70er, sondern viele der damals eingeführten Stilmittel konsolidierte. Marillion konnten schnell eine enthusiastische Fangemeinde um sich scharen, zu denen übrigens auch Steven Wilson gehört, der zufälligerweise bei dem allerersten Konzert der Band anwesend war und später einige Male mit den Mitgliedern zusammenarbeiten sollte.
“Kayleigh” war 1985 ein Hit, der alle überraschte – die Plattenfirma (in den USA hätte man lieber das als B-Seite gedachte “Lady Nina” als erste Single veröffentlicht!), die Fans (denen ein Album versprochen worden war, das aus nur zwei Stücken bestehen würde, A-Seite und B-Seite) und die Band selbst. Der Song war eigentlich in das zusammenhängende Konzeptalbum Misplaced Childhood eingebettet, funktionierte aber auch ohne den Kontext erstaunlich gut. Aber ein solches Zufallsprodukt kann man nicht wiederholen, auch wenn Marillion davor und danach ebenfalls Chartplatzierungen landen konnten, die von den Medien eher ignoriert wurden. Nach dem vierten Album Clutching at Straws schmiss Fish hin. Wie sollte sich die Band davon erholen, immerhin waren seine Bühnenpräsenz, seine Stimme und seine Texte wichtige Bestandteile von Marillion?
Aber genau wie die Vorbilder von Genesis hat die Band den Verlust gut verkraftet. Der neue Sänger hieß Steve Hogarth und hatte eine Stimme wie Kristall. Sein Gesang ist elegischer und sanfter als der von Fish, der eher ein Shouter war. Wer nun “besser” ist, das ist wohl Geschmackssache; allerdings hat Hogarth sein Organ deutlich länger in guter Verfassung halten können. Pink Floyd traten in dieser Zeit immer mehr als Vorbild hervor, besonders was das Gitarrenspiel von Steve Rothery angeht.
Um die Jahrtausendwende hauten Marillion ein Album nach dem anderen heraus: Auf das schwierige Konzeptalbum Brave (1994), das die Geduld der Plattenfirma EMI bis zum Gehtnichtmehr ausreizte, folgten in ziemlich schneller Abfolge Afraid of Sunlight (1995), This Strange Engine (1997), Radiation (1998), marillion.com (1999) und Anoraknophobia (2001). Diese Zeiten sind aber wohl endgültig vorbei; Marillion haben inzwischen längst ihre Unabhängigkeit in ein funktionierendes Geschäftsmodell verwandelt und verdienen heute tatsächlich mehr Geld mit ihrer Musik als zu den Zeiten, als sie in den Charts präsent waren.
So lässt man sich zunehmend Zeit – jedes Album könnte das letzte sein und sollte so gut wie möglich werden. Die letzten regulären Studioalben erschienen 2012 und 2016. Liveaufnahmen veröffentlicht die Band dagegen mit enormer Frequenz, oft von ihren “Marillion Weekends” (mehrtägige Konzertveranstaltungen mit besonderen Setlisten).
Das Album With Friends from the Orchestra überbrückte 2019 ein wenig die Wartezeit, aber wirklich umwerfend anders waren die Neuversionen alter Marillion-Songs auch mit Streichquartett, Horn und Flöte nicht. Gastmusiker gibt es auch auf dem neuen Album – zu den erwähnten Instrumenten kommt noch der Choir Noir und Perkussionist Luis Jardim.
Besonders viel anfangen konnte ich auch mit dem (sehr erfolgreichen) Vorgängeralbum F E A R (Fuck Everyone And Run) nicht, auch wenn es gruselig ist, wie viel Prophesie in den Texten steckt. Die beiden großen Epen haben nicht an Relevanz verloren – “El Dorado” darüber, wie Geldgier Flüchtlinge hervorbringt, mit denen dann die Verursacher des Übels kein Mitleid haben, und “The New Kings” über die düsteren Strippenzieher der rechten Politik, ihre Verstrickungen mit russischen Oligarchen sowie die Fake-News rund um den Abschuss von MH17 über der Ostukraine – wenn man bedenkt, dass die Texte noch vor dem Brexit-Votum und der Wahl von Donald Trump entstanden sind, muss man schon schlucken.
2. Marillion – An Hour Before It’s Dark
An Hour Before It’s Dark schließt musikalisch und thematisch weitgehend an den Vorgänger an. Wie so oft bei Marillion gibt es auch hier zwar nicht das eine zusammenhängende Konzept, aber mehrere verwandte Themenkomplexe, die am Ende verwoben werden.
Das dreiteilige “Be Hard On Yourself” – auch der erste veröffentlichte Song – behandelt eindringlich den laxen Umgang der Menschheit mit Erderwärmung und Naturzerstörung. Hier wird konkret aufgezeigt, wie “wir” in den reichen Nationen durch unser Konsumverhalten auf Kosten der Umwelt und der Menschen in ärmeren Regionen leben (Stichwort “loss and damage”) und auf lange Sicht den Ast absägen, auf dem wir sitzen.
Das Ganze beginnt mit einem Chor, der von perlendem Piano abgelöst wird. Die Band legt los und klingt eindringlicher und motivierter als auf FEAR. Obwohl das Stück fast zehn Minuten lang ist, hat es keine Durchhänger. Die Übergänge sind hervorragend.
Einer der intensivsten Momente kommt, als Hogarth “Cause of death: lust for luxury” ausruft. Hier funktioniert seine Masche, eine Zeile mehrfach zu wiederholen, mal. “Cause of death: Consumption” – Das ist schon harter Stoff.
Am Ende taucht zum ersten Mal die Phrase “An Hour Before It’s Dark” auf, womit die beunruhigende Tatsache angesprochen wird, dass wir bei den Treibhausgasemissionen und der Zerstörung der Ökosysteme gegensteuern müssen und dafür auch nicht mehr viel Zeit haben. Der Song mit seinem Wechsel zwischen nachdenklichen und treibenden Passagen illustriert das auch musikalisch gut.
“Reprogram the Gene” (ebenfalls in drei Abschnitte unterteilt, aber kürzer) ist ein thematischer Rundumschlag, der wieder den Klimawandel und das Massenaussterben anspricht und dabei neben einem (etwas bemühten) Namedrop von “Fridays for Future”-Aktivistin Greta Thunberg auch einen Seitenhieb auf den amerikanischen Ex-Präsidenten enthält (“I’ve seen the future: it ain’t orange, it’s green”). Aber auch der Corona-Lockdown findet Platz (“begins with a letter c” bezieht sich auf “climate” und “coronavirus”), und sogar die Debatten um Geschlechteridentitäten (“I don’t wanna be a boy, I don’t wanna be a girl”) und Selbstoptimierung. Der Spagat ist schon enorm, und abgefahrene Textzeilen wie “I wanna be Dr. Frankenstein, put my brain in a box full of LED lights” können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hogarth hier etwas zu viele Themen in einen Song geworfen hat.
Auch musikalisch ist einiges los: Nach einem irreführenden leisen Intro rockt die Band los. Zwar mit angezogener Handbremse, aber trotzdem weitaus aufgekratzter als auf FEAR (man beachte die Kuhglocke!). Ein sphärisches Interlude leitet dann über in den etwas feierlicheren Schlussteil. Mit einigen älteren Rocknummern wie “Separated Out” und “The Damage” kann das Stück zwar nicht mithalten, aber es funktioniert trotzdem gut. Was ein bisschen fehlt, ist ein richtiger Refrain.
“Only a Kiss” ist erst das zweite Instrumental auf einem Marillion-Album und zugleich das kürzeste Einzelstück der Band. Eigentlich ist es auch nicht viel mehr als ein kurzes Intro für den nächsten Song, aus dem auch die Titelzeile stammt. Aber angenehm zu hören.
“Murder Machines” war die zweite Vorabsingle und wäre da nicht der beklemmende Text über die Ohnmacht, die viele zu Beginn der Pandemie gespürt haben, das Stück hätte Hitpotenzial. So kompakt haben Marillion ihre Botschaft schon lange nicht mehr auf den Punkt gebracht. Die letzten Versuche “Most Toys” (2007) und “Whatever Is Wrong With You” (2008) haben mir nicht gefallen. Aber hier passt fast alles zusammen (nur Hogarths Schmollmund-Gesang geht mir ab und zu auf die Nerven): Strophe, Refrain, Solo, Mittelteil, zweites Solo…
“The Crow and the Nightingale” bringt danach etwas Ruhe ins Album. Leider ist das auch der Song, bei dem mir die Produktion insgesamt nicht so zusagt – angefangen bei dem nervigen Drum-Programming zu Beginn bis hin zum insgesamt überladenen Sound.
Musikalisch passiert aber viel Magisches – der Choir Noir bringt ein gewisses Gospelflair ein und Steve Rothery lässt ein schlicht sensationelles Gitarrensolo vom Stapel.
Der Text ist in erster Linie eine Widmung an Leonard Cohen, mit dem sich Hogarth hier als Texter vergleicht und meint, er selbst sei ja nur eine Krähe im Vergleich zu einer Nachtigall.
“Sierra Leone” ist dann das Stück, das am ehesten an FEAR erinnert. Damit meine ich, dass die Einzelteile nicht so gut zueinander passen und das Stück nicht richtig fließt. Hier hört man den Legobaustein-Kompositionsansatz dann doch deutlich. Zwar gibt es immerhin ein paar Reprisen, aber das Fehlen eines Spannungsbogens sorgt dafür, dass ich beim Hören wegdöse.
Auch der Text basiert auf einer an sich interessanten philosophischen Idee, krankt aber ein wenig am mangelnden Realismus. Diamanten sehen von Natur aus nicht besonders ansehnlich aus, sondern erreichen ihren Reiz erst durch den Schliff. Aber wollen wir mal nicht päpstlicher als der Papst sein.
In “Care” finden schließlich die Fäden zusammen. Gleich der erste Teil, “Maintenance Drugs”, ist der Hammer: Eine funky Strophe bereitet den Hörer nur unzureichend auf den überwältigenden Refrain vor. Unglaublich: Laut der Making-Of-Doku hat dieser Musikschnipsel seit 2008 (!) auf seinen Einsatz gewartet. Hier funktioniert das Bausatzprinzip mal ganz außerordentlich.
Auch der Text macht Ernst, thematisiert Hogarth doch die Endlichkeit des Lebens und wie Menschen damit umgehen, wenn bei ihnen eine tödliche Krankheit diagnostiziert wird. Schwelgerische Klanglandschaften leiten zum nächsten Teil “An Hour Before It’s Dark” über – dominiert erneut von einfallsreichen Akkordsequenzen. Hogarths Gesang klingt entrückt. Mark Kelly spielt am Klavier eine Überleitung, die diesen Namen auch verdient. Textlich werden weitere Motive des Albums referenziert, aber ich will nicht alles spoilern.
Der letzte Abschnitt von “Care”, “Angels on Earth”, ist mir dann etwas zu schwülstig geraten (auch wenn ich das Loblied auf die Krankenpfleger, die seit Beginn der Pandemie unter noch höherem Druck stehen als schon zuvor, gutheiße). Aber ähnlich geht es mir auch mit “The Great Escape” (1994). Nein, an die Qualität von “Neverland” (2004) reicht “Care” insgesamt nicht heran, aber es kommt zumindest in Reichweite.
Damit findet ein deutlich kürzeres Album als FEAR dann seinen verdienten Abschluss. Oder? Wieso läuft die CD noch weiter?
Ja, Marillion haben eine alte Tradition wiederbelebt, den Hidden Track! Wobei der gar nicht so hidden ist, immerhin steht er auf der gedruckten Trackliste, hat aber keinen eigenen Indexpunkt… d.h. man muss mehrere Minuten warten, bis dann der 12″ Remix (noch so ein Anachronismus) von “Murder Machines” beginnt.
Der bringt immerhin einen etwas druckvolleren Drumsound, ansonsten aber nichts, was die Albumversion nicht schon besser geleistet hätte. Eine zwiespältige Zugabe.
Negativ im Vergleich zu FEAR fällt auf, dass Steve Hogarths Stimme deutlich an Elastizität verloren hat. Im Studio kann er das nun auch nicht mehr kaschieren (obwohl er seine Gesangslinien tiefer anlegt als früher), und live wird es für ihn immer schwieriger, die alten Songs zu singen. Aber gemessen daran, wie andere Sänger teilweise in schon deutlich jüngeren Jahren Stimmprobleme haben, ist Hogarth trotzdem beeindruckend.
Genau wie FEAR ist auch An Hour Before It’s Dark ein politisches Album, und die Botschaften lassen sich schwer ignorieren. Das führt wenig überraschend zu teils intensiven Diskussionen. Man kann Hogarth gerne Naivität vorwerfen, aber ich finde es trotzdem bemerkenswert, wie er sich nach Jahren der unpolitischen Texte klar positioniert.
Beim eclipsed-Magazin hat An Hour Before It’s Dark übrigens das Kunststück vollbracht, sowohl die Leser- als auch die Redaktionscharts zu toppen (2020 schaffte das ironischerweise schon ihr Ex-Sänger Fish). Marillion gewannen zudem auch noch die Wahl “Künstler/Band des Jahres 2022”. Verdient, wenn man mich fragt. Trotz schwieriger Themen ist der Band ein gleichermaßen zugängliches wie anspruchsvolles Werk gelungen, das zudem wohl einigen Hörern geholfen hat, die Traumata der letzten zwei, drei Jahre zu verarbeiten.
Viele Musiker legten sich schon 2020 fest, dass sie das Virus aus ihrer Musik heraushalten möchten. Auch Hogarth hatte das eigentlich beabsichtigt, aber es kam dann doch anders – und das finde ich auch gut. Tatsächlich gibt es wohl kaum eine Band, die aus einem an sich so unschönen Thema so schöne Musik machen kann. Insofern: Goldrichtig entschieden.
Ein Kritikpunkt, den ich anbringen kann, ist die Songreihenfolge. AHBID fängt mit gleich drei recht energetischen Tracks an, um danach zwei hauptsächlich ruhige Nummern zu präsentieren. Dadurch wirkt es eventuell etwas unbalanciert. Allerdings fällt mir auch keine bessere Alternative ein!
Klanglich hat AHBID auch Schwächen; zwar klingt es wärmer und weniger künstlich als FEAR, trotzdem mangelt es teilweise an Luft zwischen den Instrumenten. Der Surroundmix ist bei den 5.1-Hörern eher durchgefallen; dennoch kann man die CD/DVD-Edition oder Blu-Ray empfehlen. Erstens weil es löblich ist, dass eine Band einen Surroundmix veröffentlicht (auf der Blu-ray sogar verlustlos), ohne dass man dafür tief in die Tasche greifen muss. Und zweitens gibt es eine Menge Zusatzmaterial: Neben einem exklusiven Video zu “Murder Machines” liefert man hier eine über eine Stunde lange Making-Of-Dokumentation.
Insgesamt meiner Meinung nach ein echter musikalischer Höhepunkt des Jahres 2022. Das Warten hat sich definitiv gelohnt. 2023 veranstaltet die Band übrigens zum ersten Mal ein Weekend in Deutschland. Zudem wird es bald eine Wiederveröffentlichung von Seasons End geben, dem ersten Album mit Sänger Hogarth.