Kommentar. Dass Elon Musk momentan auf Krawall gebürstet ist, das ist keine Neuigkeit mehr. In letzter Zeit hat er ziemlich viel Streit angefangen. Ein paar Beispiele zu Beginn:
Musk verklagte Ende 2023 die Watchdog-Organisation Media Matters, welche Fehlinformationen und extremistischen Content (hauptsächlich von rechts) dokumentiert und Unternehmen darauf hinwies, dass ihre Werbeanzeigen teilweise neben menschenverachtenden Beiträgen angezeigt wurden, woraufhin viele sich von der Plattform zurückzogen.
Besagte Werbekunden wurden von ihm mit den Worten „go f*** yourselves“ angegangen, was ihn aber nicht davon abhielt, dass er sie jetzt ebenfalls aufgrund des Werbeboykotts verklagt hat – wie genau er die Firmen dazu zwingen will, dass sie wieder auf dem Netzwerk Werbung schalten will, bleibt offen.
Musk attackierte auch in der Öffentlichkeit sein eigenes Kind, da es trans ist. Zitat: „Mein Sohn ist tot, vom Woke-Gehirn-Virus umgebracht.“ Die angesprochene Person, Vivian Wilson, brach daraufhin ihr bisheriges Schweigen und warf ihrem Vater in einer Reihe von Nachrichten bei der Twitter-Alternative Threads (von Meta/Instagram) Abwesenheit, Engstirnigkeit und dreiste Lügen über ihr Leben vor.
Die Musikerin Grimes, zeitweilige Partnerin Musks, zollte Wilson dafür Respekt; offenbar als Retourkutsche entzog Musk Grimes die gemeinsamen Kinder, obwohl diese eigentlich Grimes’ im Sterben liegende Großmutter treffen sollten.
Bizarr kurz darauf: Der venezolanische Machthaber Nicolas Maduro forderte Musk zu einem Duell und dieser ging darauf ein. Es sieht allerdings so aus, als ob diese Auseinandersetzung denselben Weg nehmen wird wie die zwischen Musk und Meta-Chef Mark Zuckerberg, oder das 2022 geforderte Duell mit Vladimir Putin.
Der Milliardär liegt auch mit der neuen britischen Regierung über Kreuz, aufgrund ihres Umgangs mit den fremdenfeindlichen Krawallen, die teilweise auf, auch auf Twitter/X verbreiteten, Falschinformationen basierten und von ihm mit den Worten „Ein Bürgerkrieg ist unausweichlich“ kommentiert wurden.
Nun ging Musk in seiner Funktion als Besitzer von Twitter alias X frontal auf den Politiker Thierry Breton los, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen.
Der Inhalt ist weit unter der Gürtellinie und weit fernab dessen, wie man sich einen Disput zwischen erwachsenen Männern vorstellt.
Beleidigung anstelle von inhaltlicher Auseinandersetzung
Neu ist das nicht: Auf die Kritik des amerikanischen Senators Ron Wyden, der für seinen Kampf um Transparenz und gegen verkappten Lobbyismus bekannt ist, ging Musk nicht ein, sondern fragte ihn „why does ur pp look like you just came?“; auf Deutsch: „Warum sieht dein Profilbild so aus, als ob du gerade gekommen wärst?“, wobei „pp“ bzw. “peepee“ im Englischen auch ein Slangbegriff für den Penis ist, was sicher intendiert war.
Das Meme, welches er gegen Breton nutzt, ist inhaltlich noch mal schockierender, handelt es sich doch um eine Steigerung der Beschimpfung „f*** you“ („f*** dich“), welche sich nicht wirklich gut ins Deutsche übertragen lässt.
Musk nutzt hierbei ein Stilmittel, das man als „vorgeschobene Ironie“ bezeichnen könnte. Man sagt etwas Ungeheuerliches, distanziert sich aber im gleichen Atemzug noch davon und behauptet, so etwas würde man ja nie sagen. Das erinnert ein wenig an das berüchtigte „Schmähgedicht“ von Jan Böhmermann, welches 2016 internationale Verwerfungen erzeugte.
Ein Teenager im Körper eines 53-Jährigen
Aber egal, was man von Böhmermann nun hält: Er ist, trotz seiner (nicht immer gelungenen) Vorstöße in den Investigativjournalismus, immer noch in allererster Linie Satiriker. Musk hat dieses Privileg nicht: Letzten Endes steht seine Kommunikation auch für ihn als Geschäftsmann und Chef von Tesla, SpaceX und Twitter/X. Er kann schlecht sein eigenes Handeln ironisch kommentieren, ohne die Äußerungen als seine eigene Meinung zu beanspruchen.
Um zu der vorigen Analogie zurückzukehren: Sagt ein Schüler zu seinem Lehrer „Wenn ich nicht so wohlerzogen wäre, würde ich sagen, Sie sind ein H***rensohn!“, dann gibt es höchstwahrscheinlich Sanktionen. Bretons könnte Anzeige gegen Musk wegen Beleidigung stellen. Box-Olympiasiegerin Imane Khalif geht bereits wegen Cyberbullying den Rechtsweg.
Dass der reichste Mann der Welt sich wie ein Kind aufführt, dem niemand Grenzen aufzeigt, ist in einem Dagobert-Duck-Comic unterhaltsam, aber im echten Leben doch eher besorgniserregend.
Der Stein der Anstößigkeit
Worum geht es aber nun eigentlich? Der aktuelle Streit ist das neueste Kapitel in einer Saga, die fast so alt ist wie die sozialen Medien. Dass die nicht nur positiv zu bewerten sind, dürfte längst bekannt sein. Die bisherigen Versuche, gegen zwei Hauptprobleme in den Netzwerken vorzugehen – Hassrede und Fehlinformationen – waren eher durchwachsen und standen auch rechtlich auf wackeligem Boden. Der neueste Vorstoß der EU-Kommission, der sogenannte „Digital Services Act“, sollte da ansetzen.
Musk reagierte zunächst konstruktiv, wandte sich dann aber an die Öffentlichkeit mit der Behauptung, alle anderen Tech-Firmen hätten einen „illegalen Deal“ unterschrieben, dem sich X nicht beugen würde. Beweise für diesen drastischen Vorwurf lieferte er nicht.
Verteidiger Musks führen in diesem Zusammenhang gerne die sogenannten „Twitter Files“ ins Feld, welche zeigen sollen, dass es eine illegale Verschwörung der früheren Twitter-Besitzer und diverser Regierungen (v.a. der amerikanischen) gegeben hat, die zur Zensur von Menschen mit Meinungen genutzt wurde, welche nicht dem Mainstream entsprachen.
Tatsächlich kann man über die Enthüllungen besorgt sein; allerdings ist das Gesamtbild nicht so schwarzweiß, wie es gerne gemacht wird. So zeigt sich etwa, dass Twitter längst nicht allen Forderungen nach Entfernung nachkam. Berühmtes Beispiel ist ein Tweet von Model Chrissie Teigen, welche den damaligen US-Präsidenten Donald Trump beleidigte. Trump war erbost und verlangte eine Löschung des Tweets; Twitter ignorierte dies.
Elon Musk versuchte, sich durch die Veröffentlichung dieser Dateien als Heilsbringer und Retter der freien Rede zu inszenieren; was auch bitter nötig war, denn sein Umgang mit Journalisten, welche z.B. kritisch über Tesla berichtet hatten, war alles andere als löblich.
Aber mit dem „free speech absolutism“ war es nicht so weit her; Twitter kam etwa der Forderung des indischen Premierministers Modi nach, eine Dokumentation der BBC in Indien zu blockieren.
Musk leistete auch keinen Widerstand, als die türkische Regierung eine Drosselung von „bestimmten politischen Inhalten“ vor einer Wahl verlangte. In einem berühmten Schlagabtausch warf Matt Yglesias dies Musk vor, der darauf mit den Worten „did your brain fall out“ eskalierte und behauptete, es hätte keine andere Option gegeben, weil Twitter sonst in Indien gesperrt worden wäre.
Genau dieses Schicksal hatten die früheren Besitzer allerdings dankend in Kauf genommen, als es einen Streit mit der türkischen Regierung gab; das Verbot wurde schließlich von einem türkischen Gericht gekippt. “Old Twitter” scheint für Löschwünsche von demokratischen Regierungen aus westlichen Ländern offener gewesen zu sein als für Forderungen von autokratischen Regimes; bei Musk sieht es eher umgekehrt aus. (Venezuela ist da allerdings eine Ausnahme.)
Zudem sind unter Musks Ägide immer wieder linke Accounts und Journalisten unter fadenscheinigen Gründen zeitweise oder dauerhaft gesperrt worden, teils offenbar, nachdem prominente rechte Aktivisten die Sperrungen forderten.
Fairerweise muss man sagen, dass Hass gegen Juden und H.leugnung, wenn es denn gemeldet wird, nach wie vor von Twitter/X entfernt wird. Allerdings nur in deutschen Landen, Nutzer aus dem Rest der Welt können diese Postings weiterhin sehen. Dass derartige Hassbotschaften auch in Ländern, in denen es keinen Volksverhetzungs-Paragrafen gibt, immer noch gegen die Bestimmungen von Twitter/X verstoßen, scheint die Leitung nicht zu interessieren. Wenn man sich anschaut, was Musk selbst so postet, ist das leider auch keine Überraschung.
Das Ende von Twitter/X in der EU?
Steht nun also das Ende von Twitter in der Europäischen Union bevor? Es ist zumindest wahrscheinlicher geworden, jedoch wäre es auch typisch für Musk, dass er sich nach dem Aufplustern doch dem Druck fügt und dabei seine Fans mal wieder verprellt, wie schon öfter geschehen. Exemplarisch dafür steht der Versuch, nach der Etablierung von Linda Yaccarino als CEO, mit dem Spruch „freedom of speech, not freedom of reach“ wieder etwas Normalität einkehren zu lassen.
Absehbar wäre z.B., dass man Twitter für den europäischen Markt wieder stärker moderiert, wovon aber Nutzer in anderen Ländern unbehelligt blieben.
Einige Kommentierende, besonders mit eher linken Einstellungen, begrüßten jedenfalls bereits eine mögliche Sperre, sieht man doch Musk immer mehr als jemanden, der sich einen feuchten Kehricht um geltende Regeln schert und offenbar kein Problem damit hat, gesellschaftliche Spannungen zu schüren.
Breton ging nicht weiter auf die persönliche Beleidigung ein und wartet wohl auf eine ernsthaftere Antwort des X-Chefs. Mittlerweile hat die Kommission auch klargestellt, dass Bretons offener Brief nicht mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen abgestimmt war. Dennoch ist das Ende dieser Konfrontation noch nicht in Sicht.